Perspektive Wissenschaft

Für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland ist es schwierig, nach der Promotion langfristig in akademischen Einrichtungen tätig zu sein. Sie stehen im gegenseitigen Wettbewerb um wenige Stellen. Was spräche aber dagegen, das enge Nadelöhr für langfristige Perspektiven in der Wissenschaft direkt nach der Promotion zu platzieren?

Auf einer Brache, nahe der Technischen Universität Dresden, wachsen Bäume. Eine Vielzahl junger Triebe schlagen im Frühjahr aus. Sie suchen sich ihren Weg, teilweise schief und krumm, zum Licht und um Raum zu haben. Auch wenn viele kleine Samen austreiben, bleibt am Ende nur für sehr wenige Platz. Dies ist natürlicher Wildwuchs. Es wachsen Pflanzen, wohlgemerkt keine Unkräuter, nach Launen der Natur. Da es im akademischen Apparat durchaus Programme zur Förderung von jungen Wissenschaftlern gibt, also geplant und vorbereitet wird, kann man dieses Bild aus der Botanik nur begrenzt auf das akademische System übertragen. Insgesamt habe ich jedoch den Eindruck, dass sehr wenig direkt unternommen wird, um die beruflichen Perspektiven für junge Wissenschaftler wohl zu gestalten.

Ich bin Postdoc, ein promovierter Wissenschaftler ohne leitende Tätigkeit. Was meine beruflichen Perspektiven betrifft, stehe ich vor einem sehr engen Nadelöhr. Die meisten meiner Kollegen, wie auch ich, arbeiten sehr gerne und motiviert in der Wissenschaft. Doch es gibt nur für einen Bruchteil unbefristete Stellen. Das ist fern von guten Bedingungen, ganz zu schweigen von exzellenten, um in Freiheit das Unbekannte zu entdecken. Es braucht jedoch eine Grundsicherheit, um gut forschen und lehren zu können. Es mutet mir befremdlich an, wenn ich von den Zielen der Exzellenzinitiative lese, wie sie im Internet zu finden sind: „Die Exzellenzinitiative stärkt die Hochschulen als Stätten der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Die Hochschulen werden so für hervorragende Studierende, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus dem In- und Ausland attraktiver.“ Das ist ehrlich und macht mir klar, warum ich diese Initiative gar nicht so positiv wahrnehme, wie sie von akademischen Einrichtungen und Politikern dargestellt wird. Sie ist ja offensichtlich nicht für mich als Wissenschaftler gedacht, sondern für die Hochschulen, die eben Wissenschaftler brauchen und sich durch diese Initiative aus einem größeren Angebot die vielversprechendsten raussuchen können. Die Hochschule erhofft sich dann, mit wettbewerbsorientierten Wissenschaftlern Punkte zu sammeln, um relativ zu anderen Einrichtungen auf Ranglisten weiter oben zu stehen. Für den einzelnen Wissenschaftler bedeutet dies jedoch einen härteren Kampf in einem globalisierten Markt. Hier findet ein Wettbewerb zwischen Wissenschaftler und Hochschule auf Kosten von Lehre und Forschung statt. Hochschulen und Forschungseinrichtungen fokussieren nicht direkt auf eine kritische Analyse von guter Lehre und Forschung, sondern verwenden bevorzugt genaue und allgemeine Größen wie Drittmittelsummen und lassen sich so durch das Genaue vom Wesentlichen ablenken. Am Ende bleiben leider nicht unbedingt die reflektierten, selbstkritischen und demütigen Wissenschaftler in diesem System, sondern eher die, die sich und ihre Forschung gut verkaufen können. Statt eines guten Miteinanders wird ein starkes Gegeneinander gefördert.

Mit Sicherheit und Dynamik

Doch selbst wenn man eine Stelle hat, ist volle Forschungsfreiheit nicht gewährleistet. Es steht das Erarbeiten von Ergebnissen für die nächste Begutachtung, den nächsten Antrag, die nächste Stelle – kurz die Vorbereitung auf die nächste Bitte nach Geld – an, obwohl Forschung kein Ergebnis im Voraus garantieren kann. Die Bedingungen für mich als Forscher betrachte ich so keineswegs als „exzellent“. Die berufliche Sicherheit tritt als ein sehr basales Bedürfnis in den Vordergrund. In der Maslowschen Bedürfnishierarchie belegt sie die zweitunterste Stufe. Eine Motivation durch Unsicherheit führt zur Notwendigkeit, sich als Wissenschaftler in seiner beruflichen Existenz wiederholt legitimieren zu müssen. Dies lässt wenig Raum für eine kooperative und selbstkritische Wissenschaft.

Ich vermute als Ursache für die vehemente Verteidigung der Befristung eine natürlich gewachsene Struktur, die sich in der aktuellen Form selber stabilisiert. Eine Verteilung der Macht stellt sich nicht automatisch ein. Die befristeten Arbeitsverhältnisse schaffen ja ein unglaubliches Machtmonopol für die Professorenschaft und Politik. Die Verteilung der Entscheidungsbefugnisse auf die akademische Selbstverwaltung und Politik macht es jedoch dem einzelnen Politiker beziehungsweise Professor schwer, etwas zu ändern. Mir kommt es vor wie eine Kreuzung, an der rechts vor links gilt und an jeder Ecke steht ein Auto. Eins für die Hochschulen, eins für die außeruniversitären Forschungseinrichtungen, eins für die Länder und eins für den Bund. Alle halten sich an die Rechts-vor-links-Regel und keiner bewegt sich. Es findet kein erkennbarer Lösungsversuch für diese verfahrene Situation statt.

Doch ist das nicht Jammern auf hohem Niveau? Geht es den Wissenschaftlern in Deutschland wirklich so schlecht? Ich bin nicht in der Lage, dies absolut einzuschätzen, aber relativ zu einer Alternative versuche ich es im Folgenden. Hierzu folgt eine Skizze für eine Stelle die mit meinen Vorstellungen von guter Lehre und Forschung mehr im Einklang wäre:

Meine zukünftige Stelle im Bereich der Lehre und Forschung wäre ausreichend sicher und dynamisch. Um dynamisch zu sein, bin ich bereit, die Einrichtung, nicht zwangsläufig den Wohnort, mindestens alle 8 Jahre zu wechseln. Der Wechsel sollte bevorzugt zwischen Hochschule und einer außeruniversitären Forschungseinrichtung stattfinden. Für die Sicherheit ist durch einen unbefristeten und angemessen bezahlten Arbeitsvertrag inklusive Arbeitsmittel für die Lehr- und Forschungstätigkeit gesorgt.

Auf Umwegen aus der Wissenschaft

Das akademische System ist gut finanziert in Deutschland – und trotzdem gibt es meine vorgeschlagene Stelle nicht. Mir geht es nicht darum, nun einfach mehr Geld zu fordern und das Problem damit zu lösen. Ich denke, es ist eine Umstrukturierung nötig, die die Geometrie des sich plötzlich verengenden Flaschenhalses ändert und die gesunde Relationen schafft. Im Folgenden verwende ich nur Größenordnungen, ignoriere zeitliche Änderungen der Stellenzahlen und orientiere mich am Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2017. Falls genauere Zahlen bekannt sind, präzisiere ich gern meine Rechnung. Doch das Genaue soll hier nicht vom Wesentlichen ablenken.

Derzeit gibt es etwa 200.000 Doktoranden, etwa 50.000 promovierte befristete Wissenschaftler (Postdocs, Gruppenleiter, Juniorprofessoren, befristete Professoren, …) und etwa 25.000 Professoren an Universitäten sowie etwa 20.000 an Fachhochschulen. Hinzu kommen etwa 30.000 Stellen mit unbefristetem wissenschaftlichem Personal. Etwa 4 Jahre dauert die Promotionsphase. Die Zeit nach der Promotion währt zwar im Mittel etwa 10 Jahre, doch viele verlassen den akademischen Apparat bereits nach wenigen Jahren und so nehme ich hier 5 Jahre für die mittlere Dauer dieser Phase an. Professoren sind für etwa 25 Jahre berufen. Hieraus ergeben sich folgende frei werdende Stellenanzahlen pro Jahr: ca. 50.000 neue Doktoranden, ca. 10.000 neue promovierte Wissenschaftler, ca. 1.000 neue Professoren an Universitäten, ca. 800 an Fachhochschulen und ca. 1.000 neue unbefristete wissenschaftliche Mitarbeiter. Damit ist der Anteil der Doktoranden, die nach der Promotion bleiben, bei etwa 20 %, die der Postdocs, die eine Professur bekommen, bei etwa 18 %, und weitere 10 % arbeiten langfristig als unbefristetes wissenschaftliches Personal. Somit kommen etwa 6 % der Doktoranden auf eine unbefristete Stelle in der Wissenschaft. Dies betrachte ich nicht als gesunde Relationen und gute Wege für junge Wissenschaftler, da die befristeten Wissenschaftler, insbesondere nach der Promotion, als Karriereziel die Professur vor Augen haben und auch darauf vorbereitet werden. Diese Option steht der Mehrheit jedoch nicht zur Verfügung. Zwar gibt es noch das unbefristete wissenschaftliche Personal, doch dies ist direkt weisungsgebunden oder abhängig von der Gunst der Professorenschaft und hat somit keine volle Freiheit in Lehre und Forschung.

Lebensverläufe in der Wissenschaft im aktuellen akademischen System in Deutschland über der Lebenszeit. Nach Daten aus dem Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2017.
Lebensverläufe im aktuellen akademischen System in Deutschland über der Lebenszeit. Kreise entsprechend der Stellenanzahl, verbindende Linien kennzeichnen die Personen pro Jahr, die von Position zu Position wechseln.

Ein möglicher Ausweg aus dem Umweg

Eine gesunde Relation wäre aus meiner Sicht erreicht, wenn ein Postdoc eine greifbare Chance auf eine unbefristete Stelle hätte. Es wäre wahrscheinlicher, nach einer “Probezeit” im akademischen System zu bleiben, als es verlassen zu müssen. Für die Änderung der Flaschenhalsgeometrie schlage ich die Einführung von Stellen für unbefristete Lehrende und Forscher vor, ähnlich den CNRS-Stellen in Frankreich. Ich nehme hier vereinfachend an, dass die Kosten einer Stelle unabhängig von der Berufserfahrung sind. Eine kostenneutrale Modifikation entspricht somit in der Grafik einer flächengleichen Deformation. Das Geld für unbefristete Forscher kommt von der Gruppe der befristeten und promovierten Wissenschaftler, für die nun nur noch etwa 25.000 Stellen zur Verfügung stehen. Es gibt dafür aber nach der Umstrukturierung etwa 25.000 unbefristete Stellen für Lehrende und Forscher zusätzlich. Nun verbleiben nur noch etwa 10 % der Doktoranden nach der Promotion in der Wissenschaft, von denen jedoch etwa 73 % eine dauerhafte Stelle bekommen. Von den Doktoranden wiederum sind es etwa 7 %, die dauerhaft in der Wissenschaft bleiben, statt wie heute etwa 6 %.

Lebensverläufe in der Wissenschaft nach der vorgeschlagenen Umstrukturierung in Deutschland über der Lebenszeit.
Lebensverläufe nach der vorgeschlagenen Umstrukturierung in Deutschland über der Lebenszeit. Kreise entsprechend der Stellenanzahl, verbindende Linien kennzeichnen die Personen pro Jahr, die von Position zu Position wechseln.

Diese Veränderung würde das enge Nadelöhr für eine langfristige wissenschaftliche Laufbahn etwas vergrößern und an einem früheren Zeitpunkt im Leben platzieren. Wenn jemand keine Stelle finden kann, ist dies ein sehr klares Signal, dass es für ihn keine langfristige Perspektive in der Wissenschaft gibt. Für das gesamte Wissenschaftssystem stünden mehr unabhängige und kritische Denker zur Verfügung. Das erarbeitete Wissen und die Erfahrung würden über längere Zeiten gepflegt werden. Auch besteht weniger Konkurrenz untereinander und somit mehr Potenzial für ein konstruktives Miteinander. Langfristige Perspektiven erlauben es, auch riskante Projekte zu wagen. Es mag nicht jedem Professor gefallen, ein paar Kritiker an der Seite zu haben; jedoch: ein aufrichtiger Wissenschaftler wird sich über sie freuen.

Die vorgeschlagene Stelle des unbefristeten Forschers, beziehungsweise Lehrenden, braucht eine Dynamikkomponente. Hier schlage ich vor, die Einrichtung mindestens alle 8 Jahre zu wechseln. Dies schafft Unabhängigkeit von Professoren und fördert den Austausch zwischen Einrichtungen und Gruppen. Es ermöglicht auch den Wissenstransfer von Forschungseinrichtungen zu Hochschulen und umgekehrt den guten Kontakt zu geeigneten Absolventen. Um eine Homogenität bezüglich des Alters zu gewährleisten, ist es für die Umstrukturierung entscheidend, dass die gewünschte Anzahl von Stellen pro Jahr zur Verfügung steht und nicht auf einen Schlag ein Jahrgang eingestellt wird, wie mein Kollege Prof. Holger Kantz anmerkte.

Ich schlage hier auch vor, nach der Promotion noch ein paar Jahre befristet zu arbeiten, damit der Forscher sein eigenes Profil entwickeln und bei verschiedenen Tätigkeiten, wie Lehre, Projektmanagement und dem Suchen von Forschungsideen, Erfahrungen sammeln kann. Diese Jahre sollten aber als „Probezeit” genügen, denn danach hat ein Wissenschaftler lang genug gezeigt, was seine Leistungsfähigkeit ist und muss sich nicht weiterhin für seine Berufswahl regelmäßig grundlegend legitimieren.

Diese Umstrukturierung nähme den Mächtigen im jetzigen System natürlich Macht, die sie wohl nicht freiwillig hergeben werden. Doch es handelt sich hier schließlich um Wissenschaftler und Politiker, die maßgeblich die Entscheidungen treffen. Dem einzelnen Professor stünden nach der Umstrukturierung nicht mehr so viele Wissenschaftler zur Verfügung und die Politiker könnten nicht mehr in vollem Maße mit befristeten Fördertöpfen Einfluss auf die Forschungsrichtung nehmen. Damit würde von dem einzelnen Wissenschaftler auch mehr Engagement gefordert sein, um das Wissen an die Gesellschaft und die Kollegen weiterzugeben, aber auch um zuzuhören, was relevante Forschungsthemen sind. Wissenschaft wird heute von Wissenschaftlern gemacht und nicht durch die Gebäude und Institutionen, in denen sie arbeiten. Die Einrichtungen sind eine wichtige Voraussetzung, aber wichtiger ist ein kultivierter Umgang mit Wissenschaftlern. Vielleicht kann sich ein Politiker für einen großen Festakt engagieren, bei welchem Wissenschaftler entfristet werden, statt medienwirksam einen Spaten für ein Gebäude in die Erde zu stecken und Millionen an Euro in die Hülle zu investieren? Es sei hier angemerkt, dass vermutlich auch ein großer Teil der deutschen Führungskräfte in der Privatwirtschaft und der Verwaltung ihr erstes Arbeitsverhältnis im akademischen Umfeld hatten. Was sie erlebt haben, wird auch Vorbild für ihr späteres Handeln sein.

Die hier vorgeschlagene Umstrukturierung wird für die Implementierung Zeit brauchen, doch auch kleine Schritte können das Problem abmildern. Zunächst ist ein konsequentes Informieren über die langfristigen Perspektiven und möglichen Risiken einer befristeten Tätigkeit im akademischen System notwendig, des Weiteren ein umfassendes Angebot zur Entwicklung überfachlicher Kompetenzen und zur beruflichen Orientierung, um gut vorbereitet zu sein auf den derzeit wahrscheinlichsten Weg: das Verlassen des akademischen Systems.

Ich bin zuversichtlich, dass im Dialog ein Ausweg aus der verfahrenen Situation gefunden werden kann. Dieser Weg erfordert aber ein gemeinsames Handeln von Bund, Ländern, außeruniversitären Forschungseinrichtungen und Hochschulen. Es nicht zu versuchen, wäre schlecht für die Wissenschaft! Ich wünsche mir einen respektvollen und gepflegten Umgang mit Wissenschaftlern. Auch sollte der Blick auf deren Lebensläufe nicht fehlen. Es ist eine wichtige Aufgabe, die Forscher und Lehrenden gut auszuwählen und ihnen Raum und Zeit für ihre Aufgabe zu geben. Bäume werden heute in Baumschulen kultiviert mit Blick auf den Bedarf und zum richtigen Zeitpunkt verpflanzt – erst dann können sie sich frei entfalten zum Wohle und zur Freude der Umgebung.

4 comments

  1. Sehr geehrter Herr Dr. Ing. Baumgart,

    Sie stellen das Problem, welches eben nicht allein ihr eigenes ist, sehr sorgfältig dar und entwickeln gute Gedanken. Die Lösung muss nach meiner Auffassung in einer konstruktive Politik gesucht werden, die ich leider auch im Ansatz in Deutschland nicht mehr zu erkennen vermag. Ausgehend vom einstmals herrschenden Gedanken, dass Bildung und Wissenschaft – Forschung – im allgemeinen Interesse der Menschheit, der Bürgerinnen und Bürger zu entwickeln sind, originär oder gar monopolistische staatliche Aufgabe sind, sehe ich die Gewährleistung der Wissenschaften und der damit verbundenen, notwendigen Forschung durch deren Finanzierung als eine originär staatliche nationale Aufgabe an, die der Staat niemals übertragen darf. Der Staat muss nach meiner Auffassung hier um seine Monopolstellung kämpfen und darf diese Felder nicht der privaten Wirtschaft als deren Steinbruch überlassen. Für die Wirtschaft sind Wissenschaft und Forschung nur insoweit von Interesse, als dass sich aus deren Erkenntnissen ein Profit generieren läßt. So werden für die Menschheit elementar wichtige Forschungen nicht unterstützt, wenn sie nicht gleichzeitig auch einen ökonomischen Gewinn verheißen. „Wissenschaftler“ zeigen sich in Medien als Vertreter rein wirtschaftlicher Interessen und diskreditieren Wissenschaft und Forschung in der Öffentlichkeit. Leider hat sich in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten analog zum „Vorbild“ US die Wissenschaft mehr und mehr rein ökonomischen Interessen gebeugt: die Aufgabe eines jeden Wissenschaftlers und Forschenden besteht nun zunächst nach herrschender Auffassung und in der Praxis darin, Mittel, am besten Drittmittel aus der Wirtschaft zu beschaffen. Wissenschaft und Forschung beugen sich rein ökonomischen Interessen und verbiegen sich heftig dabei. „Erfolgreich“ soll nur der sein, dem solches gelingt. Was für ein Unsinn! Unser Staat zieht sich aus der meiner Auffassung nach originär staatlichen Aufgabe zurück, verlangt gar die Drittmittelbeschaffung oder vermittelt diese noch. Das zuständige Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung versteht sich so konsequent inzwischen z.B. als staatliche Handelsagentur (aus Steuermitteln finanziert) für technische Produkte, wie ich mit Erstaunen feststellen musste. Beim Besuch der Seite des Ministeriums im Netz öffnete sich zu Zeiten von Bundesministerin Frau Prof. Dr. Annette Schavan ein Popup, in welchem diese sich persönlich mit einem offenen Brief und deren Unterschrift für die Produkte eines US-Elektronikkonzerns starkmachte, u.a. für den sog. Nacktscanner, den dieser Konzern damals exklusiv auf dem Weltmarkt anzubieten hatte (ich finde diesen Nacktscanner widerlich und sehe ihn als extremen Eingriff in das Recht der Persönlichkeit an, der nicht zu rechtfertigen ist. Die plumpe Werbung nährt den Verdacht der Korruption seitens des Konzerns). Ich fürchte allerdings, dass ich mit meinem Staatsverständnis – Bildung und Wissenschaft als staatliches Monopol zum Wohle der Bürger und letztlich der gesamten Menschheit – als altmodisch abgetan werde. Die neoliberale Auffassung zum Staat ist eine gänzlich andere, die als oberstes Ziel die Gewinne der Wirtschaft ansieht. Für Sie wünsche ich, dass es Ihnen gelingen möge, so Sie denn meine Auffassung vielleicht ein wenig in der Tendenz teilen mögen, möglichst viele Forschende in derselben oder einer ähnlichen beruflichen Situation, wie Sie diese erleben, hinter sich zu bringen, zu koordinieren, zu vereinigen. Ich sehe Ihr Problem allerdings als Teilproblem des dringend zu überdenkenden Modells eines modernen Staates. Nach meiner Auffassung ist ein moderner Staat nur ein solcher, der die Interessen nicht allein weniger ökonomisch starker, sondern des gesamten Staatsvolkes koordiniert und fördert, ein Staat, der das Gemeinwohl und den aus diesem resultierenden, selbstverständlich notwenigen sozialen Frieden – der uns nur bei konsequenter Unterstützung auch der schwächsten Glieder der Gesellschaft dauerhaft werden kann – als vordringlichstes Ziel hat, dem sich alle anderen Staatsziele unterordnen müssen, der die ökonomisch Starken insoweit vernachlässigen kann. Ein gesundes Gemeinwohl kann nach meiner Auffassung nur dadurch geschaffen werden, dass Bildung und Wissenschaft – Forschung – in staatlichem Auftrage mit staatlicher, ausreichender Finanzierung aller darin Arbeitenden ohne ökonomische Hintergedanken zum Wohle aller Bürgerinnen und Bürger entwickelt werden.

    Mit freundlichen Grüßen aus Dresden-Loschwitz

    Dipl.-Jur. Johannes Heemann

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    1. Sehr geehrter Dipl.-Jur. Johannes Heemann,

      vielen Dank für diesen ermutigenden und umfassenden Kommentar. In meinem Beitrag habe ich bewusst die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Mittelpunkt gestellt. Die Wissenschaftseinrichtungen stehen in einem ökonomischen Wettstreit, wie Sie es treffend beschreiben. Dass diese wirtschaftliche Betrachtung der Lehre und Forschung zwar einen Erfolg des einen Wissenschaftlers gegenüber seinen Konkurrenten ermöglicht, aber der originären Aufgabe der Wissenschaft nicht gerecht wird, habe ich auch in meinem Beitrag Wetteifernde Wissenschaft erwähnt. Aus meiner Sicht ist die grundlegende Aufgabe der Wissenschaft zum Wohle der Bürger zu handeln und nicht der Wirtschaft zu dienen, da kann ich Ihre Position nur unterstützen.

      Mit freundlichen Grüßen,
      Johannes Baumgart

      Antworten

  2. Lieber Herr Baumgart, ich begrüße es sehr, dass Sie so konstruktiv dieses wichtige Thema anstoßen und, inklusive sehr seriöser Entwicklungsvorschläge öffentlich machen. Ich hoffe, viele lesen das und beteilgen sich an einer Diskussion! Ich habe schon sehr viele sehr enttäuschte WissenschaftlerInnen gesehen und kann Ihre Vorschläge nur gutheißen. Beste Grüße, Ulrike Gerischer

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