Bäume ragen in den Himmel, der vereinzelt durch das Blätterdach durchscheint.

Tragende Hierarchie

Bäume ragen in den Himmel, der vereinzelt durch das Blätterdach durchscheint.

Obwohl vom technisch und naturwissenschaftlichen Forschungsbereich die Verwaltung eher kritisch beäugt wird und sie sich in abstrakten, formalen und vorherrschend statischen Texten mehrheitlich rein sachlich äußert, zeigt sich im Inneren der Verwaltung viel mehr Menschlichkeit. Dem Grundmotiv der staatlichen Institution wohnt der Gedanke inne, dass der Staat den Menschen für ein friedliches Miteinander dient. Ein Gesichtspunkt, der nicht auf den ersten Blick mit den von oben nach unten sich verästelnden Organigrammen zusammenpasst. Wie sich die entscheidenden staatlichen Institutionen in unsere Demokratie einfügen, ist von zentraler Bedeutung. Für meine Arbeit in der Verwaltung hilft mir eine Betrachtung der Funktion der Hierarchie hinsichtlich der Informationsflüsse wie auch der -verarbeitung.

Hierarchie in Form einer tragenden Struktur begegnet uns in Firmen, Institutionen und anderen Strukturen, in denen Menschen miteinander an einer Sache arbeiten. Ab einer Größe, die über die einer Familie hinausgeht, ist in aller Regel eine Strukturierung für ein effektives Arbeiten hilfreich. Bei größeren Gruppen halte ich sie sogar für zwingend notwendig, um funktional zu bleiben. Jedoch bedarf es zugleich eines gemeinsamen Motivs für alle Mitwirkende, welches als gemeinsamer Bezugspunkt ein zentrales Bindeglied, eine Leitidee darstellt.

Ein Beispiel für die gemeinsame Arbeit an einem Ziel ist das Musizieren in einem Orchester. Der Klang des Zusammenspiels formt sich durch die gemeinsame Vorstellung. Divergierende Spielweisen führen nicht zu mehreren simultanen Musikstücken, sondern zu einem anderen Gesamtklang. Dies verdeutlicht, dass mehrere Ziele nicht gleichzeitig realisiert werden können und ebenso die Optimierung zu mehreren unterschiedlichen Zielen nicht parallel erfolgen kann. Nur ein einzelnes Ziel gibt es, was es – möglicherweise unter Nebenbedingungen – zu verfolgen gilt. Sichtbar wird dies ebenso an der Singularität der Gegenwart: Zwar können konkurrierende Ideen, wie zukünftig etwas sein sollte, nebeneinanderstehen, jedoch realisiert sich in der Gegenwart nur ein einzelner konkreter Zustand.

Künstlich getrennte Gruppen zeigen an ihren Rändern Defizite

In unserer Gesellschaft werden beständig Erfahrungen und Wissen gesammelt und an Mitmenschen weitergegeben. Vertrauen Menschen sich gegenseitig, entsteht durch diese Vernetzung eine Gruppe mit ihren emergenten Eigenschaften. Eigenschaften, die keinem einzelnen Individuum mehr zuzuordnen sind, sondern die der Gruppe als Subjekt eigen sind. Will heißen: Es besitzt kein einzelner Mensch das hieraus resultierende Wissen und Können, sondern es ist ein Gut der Gruppe als Ganzes. In manchen Bereichen ist diese Gruppenbildung heute losgelöst von jeglichen Staatsgrenzen und weltumspannend, jedoch mit Bezug zu einem verbindenden Thema, in anderen Bereichen besteht sie weiterhin eher in einem geografisch abgegrenzten Raum.

Bei der digitalen Vernetzung ist keine räumliche Nähe erforderlich, in vielen Fällen ist für die Funktion der Gruppe nicht einmal ein Austausch mit Dritten notwendig. Auch stehen die Gruppen untereinander nicht zwangsläufig in Kommunikation, wodurch sich beispielsweise eine Art von Parallelwelten bilden können. Entsprechend kommt es vor, dass, obwohl Menschen heute geografisch nahe beieinander leben, sie mit ihren Ideen und Gedanken in sehr unterschiedlichen Welten unterwegs sind. Filterblasen bilden sich und die ursprüngliche gemeinsame geografische Herkunft tritt in den Hintergrund.

Zur vollständigen Abgrenzung von Gruppen kann es erforderlich werden, dass Lücken in der Erzählung der Gruppe entstehen. Ohne den Rückgriff auf hierfür außerhalb der Gruppe vorhandenes Wissen wird das eigene Erklärmodell in der Regel nur dürftig die Lücke füllen. Hilfsweise wird der Einfachheit halber das eigene Motiv als Erklärung umformuliert. Unbequeme oder anstrengende Wahrheiten werden beispielsweise dadurch abgelehnt, dass ein einzelner Fehler – der durch die menschlich endlichen Kräfte unvermeidlich in einer großen Gruppe ist – alle Aussagen einer Gruppe in Frage stellt. Häufig bleibt am Ende der Staat beziehungsweise ein Bündnis von Staaten als letztes verbindendes Element, als eindeutig zugeordnete Institution übrig. Die künstlich geschaffene Abtrennung der Gruppe zeigt insbesondere an ihren Rändern Defizite und wird der wechselseitigen Bedingtheit aller Menschen auf unserer Erde nicht gerecht.

Die Zusammenführung von Fähigkeiten und Erfahrungen dient der Sache

Die Bereiche, in denen zahlreiche Menschen an einer Sache in einer Einheit tätig sind – wie zum Beispiel in Unternehmen, Institutionen oder im Privaten –, sind äußerst vielfältig und auf unterschiedlichste Weise organisiert. Für den Austausch zwischen den verschiedensten Teilen sind zusammenfassende Einheiten ein wichtiges Element. Damit eine kohärente und unmittelbare Darstellung nach außen hin möglich ist, bedarf es hierfür eines vertrauensvollen Austausches, welcher sich aus dem Wissen um die wechselseitige Bedingtheit motiviert.

Für derartig komplexe Aufgaben haben sich Hierarchien bewährt in Form von klaren Zuordnungen von Aufgaben, welche die unterschiedlichen Fähigkeiten und Erfahrungsschätze der beteiligten Menschen zusammenführen. So können die vorhandenen Fähigkeiten im Sinne der Sache gut gebraucht werden, erfordern als Grundlage jedoch eine verlässliche Kommunikation.

Durch Abstraktion Verbindungen ermöglichen

Hierarchie als strukturierendes Element schafft Verbindungen zwischen einzelnen Aufgaben, welche durch Menschen in den entsprechenden Rollen ausgeführt werden. Selbstverständlich hat jede:r nur endliche Fähigkeiten und kann daher nie die Rolle exakt ausfüllen. Jedoch ist bei einer guten Einbettung in das Umfeld eine vertiefte Arbeit an einer Detailfrage möglich.

Wichtige Knotenpunkte eines Netzwerkes befinden sich dort, wo Arbeitsergebnisse zusammengetragen, die Grobrichtung geprüft und Neuausrichtungen kommuniziert werden. Hier wird in erster Linie zusammengefasst und abstrahiert. Zwangsläufig kommt es dabei zu Verlusten von Detailinformationen, während der wesentliche Inhalt möglichst erhalten bleibt. Durch die Abstraktion geht der Bezug zum Konkreten verloren und lässt sich nicht in jedem Fall wieder eindeutig herstellen. Dadurch vergrößert sich der Abstand zum Realen, ohne den Bezug zur Realität zu verlieren. Die Herausforderung besteht darin, konkrete Einzelfälle mitzudenken, auch mögliche in der Zukunft liegende, und nicht in einer abstrakten Sprache zu verharren.

Nach meiner Auffassung ist die Tätigkeit des Zusammenfassens und Abstrahierens nicht näher an einer absoluten Wahrheit als beispielsweise eine handwerkliche Tätigkeit, sondern stellt allein Bezüge her. Das Ergebnis wird jedoch wesentlich für diese abstrakte Arbeit durch die zugrundeliegende Leitidee geprägt. Fachexpert:innen kennen sich in einem Thema aus, ihr eigenes Wissen und ihre intellektuellen Fähigkeiten unterscheiden sich jedoch nur marginal von denen der Mitmenschen im Vergleich zur Leistung einer umfassenden, im vertrauensvollen Austausch stehenden großen Gruppe von Menschen, die mit einer gemeinsamen Leitidee im gegenseitigen Vertrauen arbeiten. Ein produktives Beispiel für gute Zusammenarbeit ist der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), welcher bereits zu früher Zeit Wissenschaft und Politik konstruktiv zusammenführte.

Der Staat dient den Menschen

Zentral für unsere heutigen staatlichen Institutionen ist die Sichtweise, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind, wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in Artikel 1 formuliert ist. Auch im Grundgesetz findet sich dies wieder. In der 2014 gehaltenen Rede zu 65 Jahren Grundgesetz hebt der Schriftsteller Navid Kermani hervor, dass dies eine Umkehrung gegenüber der vorherigen deutschen Verfassung ist und nunmehr der Staat „zum Diener der Menschen, und zwar grundsätzlich aller Menschen, der Menschlichkeit im emphatischen Sinn [wird]“. Die dienende Aufgabe wird ebenfalls beim Blick in der Präambel des Grundgesetzes deutlich: hier hat das Verb „dienen“ eine zentrale Bedeutung.

Die statischen Organigramme von Institutionen vermitteln mit ihren sich von oben nach unten verästelnden Verantwortlichkeiten ein Bild, was dem dienenden Staat nur bedingt gerecht wird. Auch die einfache Umkehrung von unten nach oben würde dies nicht abbilden, da dies den Eindruck vermittelt, dass zentrale Einheiten aufgelöst werden können, wohingegen sie jedoch für Abwägungen, insbesondere für ein einheitliches, abgewogenes und damit faires Handeln, entscheidend sind.

Vielleicht hilft es hier, konkreter an das Bild eines Baumes zu denken. Die Verzweigungen des Geästs als auch des Wurzelwerks sind zentral durch den Stamm verbunden und an der Peripherie befinden sich die überlebenswichtigen Schnittstellen nach außen hin mit den Blättern zur Luft und den Wurzeln zum Wasser, wobei auch der Stamm aus der Ferne sichtbar ist und die gesamte Last des Astwerkes trägt. Jeder Teil des Baumes ist von Bedeutung, und so zeigt sich die gegenseitige Bedingtheit. Die entsprechende Darstellung wäre dann eher an einem Netzwerk orientiert, wie etwa das Bild des Organigramms des Völkerbundes aus dem Jahr 1930.

Wir brauchen eine gemeinsame Leitidee

Von Bedeutung für die Würde im Zusammenspiel mit Hierarchie ist die Feststellung von Martha Nussbaum in ihrem Buch „Königreich der Angst“, dass die Würde jedem gehört und die Menschen in ihrer Würde gleich sind. Kurz zusammengefasst: Die Würde baut Nussbaums Worten zufolge keine Hierarchie auf und niemand sollte versucht sein anzunehmen, dass seine Würde als Mensch durch die Demütigung eines anderen gestärkt werden könnte. Dem steht gegenüber der Ruf beziehungsweise der relative Status des einzelnen Menschen, welcher durch den Unterschied zu den Mitmenschen und seiner zeitlichen Dynamik andere Eigenschaften besitzt.

Ruf und Status haben einen Bezug zur Eitelkeit. Die persönliche Eitelkeit ist für die Politik eine Gefahr, wie Max Weber in seinem Vortrag „Politik als Beruf“ darlegt. Sie gefährdet die erforderliche Distanz für eine sachliche Hingabe bei der beruflichen Tätigkeit im politischen Bereich. Die egoistische Eitelkeit ist hier abzugrenzen vom menschlichen Bedürfnis nach Anerkennung. Jede:r ist als Individuum einzigartig und möchte gesehen als auch verstanden werden und damit an unserer Welt teilhaben, andernfalls verschwindet er oder sie im politischen Bereich im unbestimmten Man – wie es Martin Heidegger in „Sein und Zeit“ darlegt – und führt blind Befehle aus beziehungsweise gibt sich im Füreinander auf, was kein Miteinander ist. Einen inspirierenden und würdevollen Austausch mit Mitmenschen, der der Individualität gerecht wird, beschreibt Hartmut Rosa umfassend mit seiner Betrachtung von Weltbeziehung in Form von „Resonanz“, so auch der gleichlautende Buchtitel. Diese Sichtweise trägt dem Bedürfnis, gesehen zu werden, Rechnung, als auch dem Umstand, dass die unmittelbare Interaktion von einzigartigen Menschen in der Regel noch einzigartiger ist.

Im Ergebnis ist festzuhalten, dass gerade für den einzelnen mitwirkenden Menschen die zentrale Leitidee für die Arbeit keine an egoistischer Eitelkeit orientierte sein darf, sondern sie muss gegenüber anderen vermittelt und vertretbar sein. Eine verbindende gemeinsame Leitidee ist gerade in unserer stark ausdifferenzierten Welt von zentraler Bedeutung.

One comment

  1. Bestimmend für jede Form der Hierarchie muss sein, dass sie keinem Selbstzweck, keiner Selbsterfüllung dient, sondern dazu geeignet ist, Fragen zu beantworten, die ohne sie genauso gestellt, aber nicht beantwortet werden könnten. Hierarchie als Organisationseinheit muss dabei flexibel, anpassungsfähig und änderbar sein. Auch muss sie sich ab und an die Frage gefallen lassen, ob sie für die Welt in der wir leben, noch tragfähig ist. Gerade staatliche Strukturen und Hierarchien erscheinen aus der Zeit gefallen, dass sie noch einem Ideal verhaftet sind, dass in einer modernen und digitalen Gesellschaft nicht mehr in Gänze tragfähig erscheint. Daher wird es spannend sein zu beobachten, wohin sich die Staatsstruktur entwickeln wird.

    Antworten

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .