Manchmal kommen die Dinge anders als gedacht. In Dresden bietet sich nun ein freier Blick auf die Brühlsche Terrasse, nachdem die Carolabrücke in sich zusammengefallen ist. Vor dem 11. September 2024 – dem Tag des Einsturzes – wäre das undenkbar gewesen. Unerwartete Ereignisse gehören zur Welt, in der wir leben.
Mein Dasein lässt sich ohne Mauerbau und -fall nicht in Gänze denken. Ich erinnere mich kaum an gravierende Umbrüche infolge der Wiedervereinigung. Als Schüler in Baden-Württemberg nahm ich sie eher am Rande wahr – durch sächsische Sprache und Trabis. Dennoch wäre der Weggang meiner Familie väterlicherseits aus Sachsen nach Baden-Württemberg im Jahr 1955 ohne die Teilung nicht denkbar gewesen. Andererseits wäre Dresden, mein Lebensmittelpunkt seit mehr als der Hälfte meines Lebens, ohne die Wiedervereinigung wohl nicht Realität geworden.
Vor etwa zehn Jahren beschäftigte ich mich mit meinen damaligen Perspektiven im akademischen Apparat. Ich war enttäuscht, wie wenige befristete Wissenschaftler:innen entfristet werden – und zugleich überrascht, wie wirksam eine Tätigkeit sein kann, die auf die Arbeitsbedingungen der Wissenschaft wirkt. Damals gab es rund 30.000 Hochschulprofessor:innen. Meine Überlegung war: Wenn ich es schaffen könnte, dass ein:e einzelne:r Professor:in ein Promille mehr Wissenschaft leisten kann, entspräche das insgesamt dreißig Professor:innen. Selbst könnte ich nur eine Stelle ausfüllen. Dieser Blick auf mögliche Wirksamkeit im politischen Bereich begleitet mich bis heute. Ein wesentliches Merkmal ist, dass die Wirkung sich in aller Regel nicht unmittelbar zeigt. Verwaltung leistet meist gute Arbeit, wenn sie nicht auffällt – und nicht stört.
Für unsere Gesellschaft ist die Marktwirtschaft – eine Ordnung, die individuelle Leistung belohnt, aber gemeinschaftliche Verantwortung voraussetzt – prägend. Sie ermöglicht es dem Einzelnen, durch selbst erwirtschaftetes oder ererbtes Vermögen das eigene Wohlergehen unmittelbar zu gestalten. Doch ein starker Einzelner macht noch keine starke Gesellschaft. Im Gegenteil: Wer mit umfangreichen Ressourcen ausgestattet ist und seine eigenen Ziele über das Wohl anderer stellt, kann der Gemeinschaft erheblich schaden.
Der Zusammenhang zwischen Individuum und Gesellschaft ist komplex – nicht kompliziert. Gesellschaft entsteht aus dem Zusammenspiel vieler Einzelner. Die Eigenschaften der Gesellschaft sind emergent – also nicht allein das Ergebnis individueller Merkmale. Neben den Eigenschaften des Individuums ist die Art und Weise entscheidend, wie wir miteinander umgehen. In diesem Zusammenspiel entsteht das, was Gesellschaft ausmacht – etwas, das sich nicht auf die Summe individueller Eigenschaften reduzieren lässt. Doch für Einzelne ist das schwerer zu fassen, weil diese Erfahrung nicht direkt erlebt werden kann.
Unsere Gesellschaft wird daher nicht besser, wenn wir nur den Kuchen größer machen. Was wir brauchen, ist eine Stärkung des Austauschs – das Artikulieren, Zuhören und Respektieren unterschiedlicher Sichtweisen. Bedauerlich ist, dass technologische Entwicklungen, marktgetrieben, oft vor allem das Individuum fokussieren und den kultivierten Dialog vernachlässigen. Auf der Gesellschaftsebene ist der Austausch essenziell. Findet er nicht statt, kann es bis zum Krieg führen – mit gravierenden Brüchen und Zerwürfnissen als Folge. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Geschichte meist von den singulären Ereignissen erzählt wird – von den Kriegen, den Brüchen, den Katastrophen. Doch wichtiger wäre, von den Friedensstifter:innen zu erzählen – von denen, die nach den Brüchen wieder Verbindung schaffen, versöhnen und Brücken bauen.
In diesem Zusammenhang kommt mir ein Zitat von Kafka aus seinem Tagebuch zur Herrlichkeit des Lebens in den Sinn. In Anlehnung daran: Das Gute ist nicht laut, nicht grell. Es steht bereit. Öffnen wir uns ihm, nehmen uns Zeit, einander zuzuhören und gemeinsam zu gestalten – dann kann eine gemeinsame gute Zukunft entstehen. Diese Bedeutung des Zuhörens zeigt Bernhard Pörksen im Kontext der Ereignisse unserer Zeit in seinem Buch Zuhören eindrücklich auf.
Damit eine Konstruktion – ob Brücke oder Gesellschaft – trägt und die vorgesehenen Belastungen aushält, muss jedes Teil seine Aufgabe erfüllen und darf nur so stark beansprucht werden, wie seine Belastbarkeit es zulässt. Doch jedes Teil soll gebraucht werden – und nicht nutzlos bleiben. Kommt es zu Brüchen oder Verwerfungen, müssen andere Teile höhere Lasten tragen, sofern nicht genügend redundante Elemente Stabilität sichern oder sich das Gefüge durch stete Erneuerung schnell genug anpasst. Die Natur zeigt in vielen Bereichen, dass Stärke in erster Linie durch Redundanz, Kooperation und dynamische Erneuerung entsteht – nicht durch extrem starke Einzelelemente. Das Leben ist nicht ständig extrem, sondern einfach da – getragen vom Zusammenwirken, das seine kraftvolle und einzigartige Beständigkeit erst ermöglicht und weit über das Individuum hinausreicht.

