Seit meiner Jugend spiele ich gerne in Amateurorchestern mit. Es steht außer Frage, dass eine Darbietung durch Amateur:innen mit Einspielungen von renommierten Profiorchestern bei Weitem nicht mithalten kann. Doch was motiviert den hohen Aufwand, Werke, welche meist mehr oder weniger bekannt sind, in zahlreichen Proben einzustudieren? Eine allgemeine Antwort kann ich nicht liefern. Jedoch wurde mir in der durch die Coronapandemie ausgelösten Unterbrechung der regelmäßigen Probenarbeit ein wertvoller Aspekt bewusst: wie wichtig es ist, im Miteinander einen vergänglichen und zugleich schönen Gesamtklang auszugestalten.
Beim gemeinsamen Musizieren ist es entscheidend, mit derselben Vorstellung von der gespielten Musik heranzugehen. Jede:r Musiker:in hat zahlreiche Möglichkeiten, den eigenen Ton auszugestalten und sich damit nicht nur in den Gesamtklang einzufügen, sondern ihn ebenso aktiv zu formen. Weder zu tief noch zu hoch, sondern den Ton treffen. Weder zu laut noch zu leise, sondern sich einfügen. Es ist erstaunlich, dass dieses Zusammenspiel durchaus mit an die hundert Beteiligten gelingt, wo doch Teams in dieser Größe in aller Regel in Untergruppen zerfallen.
Beim genaueren Betrachten findet sich im Orchester eine ordnende und damit tragende Struktur. Diese klare Aufgabenteilung und Zuordnung von Zuständigkeiten ist erforderlich, denn die ständigen kleinen und notwendigen Nachjustierungen finden umgehend statt. Einen Zeitversatz von einer hundertstel Sekunde – in dieser Zeit bewegt sich der Schall um etwa 3,4 Meter – nehmen wir bereits wahr. Hinzu kommt die endliche Reaktionszeit unseres Nervensystems und die Verarbeitung dieser äußeren Reize in aktive körperliche Bewegung, wiederum verbunden mit innewohnender Trägheit durch das Gewicht unserer Körperteile, zur Gestaltung des Tones. Leider ist deswegen beispielsweise ein Zusammenspiel per Videokonferenz mit weiteren erheblichen Verzögerungen durch die Technik nicht praktikabel. Durch regelmäßiges Proben und daraus erwachsende Erfahrung ist es möglich, die zu spielende Musik vorauszuahnen und dadurch einen kohärenten Gesamtklang zu gestalten.
Wegen der geforderten schnellen Kommunikation und mit der Idee des Gesamtklanges ist die Rolle der Dirigentin beziehungsweise des Dirigenten zentral, obwohl nicht direkt hörbar. Gleiches gilt auch für die Körperbewegungen der Stimmgruppenführer:innen, welche die Klangvorstellungen für die jeweilige Instrumentengruppe konkretisieren. Durch das Zusammenspiel entsteht mit dem Klangkörper Orchester ein Gesamtklang. Dieser ist deutlich mehr als die einfache Überlagerung von Einzelstimmen und wesentlich geprägt durch die gemeinsame Klangvorstellung sowie durch ein vielschichtiges Hören auf die unterschiedlichen Stimmen durch alle Mitwirkenden.
Für die Funktion ist es wichtig, dass die klare und verbindliche Hierarchie, welcher die einzelnen Rollen, wie Dirigent:in, Stimmgruppenführer:in sowie Solist:innen und Tuttist:innen, unterliegen, von allen akzeptiert und gelebt wird. Das Bewusstsein darüber, dass die endlichen Möglichkeiten eines jeden Menschen die zugewiesene Rolle nur näherungsweise erfüllen können, sollte selbstverständlich sein. Es gilt, den Klang von den gegebenen Möglichkeiten her zu gestalten. Kein Mensch beherrscht die absolute Schönheit der Musik, jedoch kann jede und jeder im Rahmen seiner Fähigkeiten sich einbringen, um sich ihr zu nähern. Im Orchester erwächst hierfür aus dem Zusammenwirken eine weitere Dimension, um den Gesamtklang zu gestalten. Dieser schöne Klang des Zusammenspiels ist für das Leben von uns Menschen – gerade in der heutigen Zeit – von großer Bedeutung.