Am 1. September 2024 fand die Landtagswahl in Sachsen statt. Vor der Wahl wurden emotionale Botschaften eingesetzt, um direkte Reaktionen zu provozieren. Gleichzeitig wurden strategische Überlegungen angestellt, um die langfristigen Folgen der Wahl abzuschätzen. Eine reflektierte Wahlentscheidung ist ein wesentlicher Teil der politischen Verantwortung. Das habe ich bereits vor fünf Jahren in meinem Beitrag „Wahl mit Verstand“ betont. Damals argumentierte ich, dass eine Wahl nicht auf einer unüberlegten Entscheidung beruhen sollte. Vielmehr sollte sie auf einer gründlichen Auseinandersetzung mit den Kandidierenden und Wahlprogrammen der Parteien basieren.
Unsere Gesellschaft und ebenso unser politisches System beruhen auf Arbeitsteilung. Dadurch muss nicht jede:r Bürger:in jede Entscheidung im Detail hinterfragen. Wir delegieren Verantwortung an gewählte Vertreter:innen und Institutionen, denen wir Vertrauen schenken. Dieses Vertrauen ist nicht bedingungslos. Es wird durch regelmäßige Wahlen erneuert und geprüft. Wahlen sind nicht nur Ausdruck politischer Präferenzen, sondern auch ein Mechanismus, der sicherstellt, dass das Vertrauen in Entscheidungsträger:innen gerechtfertigt bleibt.
Heute stellt sich die Frage, ob unser Wahlsystem noch den Anforderungen gerecht wird oder ob Reformen nötig sind. Eine solche Reform sollte Gleichheit und Verhältnismäßigkeit sicherstellen, aber auch eine konsensfähige Regierungsarbeit ermöglichen. Ein Ansatz könnte die Einführung von Misstrauensstimmen neben den Vertrauensstimmen sein, um eine differenziertere Stimmabgabe zu ermöglichen. Unser Wahlsystem ist sehr einfach gehalten, während Umfragen oft differenzierter sind. Bei Bundestags- und Landtagswahlen stehen den Wählenden nur zwei Kreuze zur Verfügung. Das reicht oft nicht aus, um die vielschichtigen Präferenzen abzubilden.
Vertrauen und Misstrauen reflektiert artikulieren
Vertrauen und Misstrauen sind eng miteinander verbunden, wie Martin Hartmann in seinen Überlegungen zum Thema Vertrauen aufzeigt. Gleichgültigkeit ist dagegen der eigentliche Gegenpol. Misstrauen fordert eine aktive Auseinandersetzung, Vertrauen dagegen festigt oft nur bestehende Überzeugungen. Neue Erkenntnisse oder überzeugende Argumente können jedoch Misstrauen in eine stabilere Form des Vertrauens verwandeln, da durch die vertiefte Auseinandersetzung eine klarere und konsequentere Einbettung erfolgt.
Dieses Prinzip ließe sich auf das Wahlsystem übertragen. Neben den regulären Stimmen, die Vertrauen ausdrücken, könnten Misstrauensstimmen eingeführt werden. Diese Idee basiert auf meinen Überlegungen und soll die Wählenden dazu anregen, sich intensiver mit den politischen Angeboten auseinanderzusetzen. Vertrauensstimmen würden positiv gezählt, während Misstrauensstimmen negativ gewertet würden. Zunächst müssten alle Vertrauensstimmen vergeben werden, bevor die Misstrauensstimmen gebraucht werden können. Dies würde sicherstellen, dass das Parlament immer durch positive Stimmen gefüllt ist.
Alternative zur Fünfprozenthürde
Die Fünfprozenthürde wird als Instrument zur Sicherung der Parlamentsstabilität gesehen. Sie verhindert, dass Parteien mit weniger als fünf Prozent der Stimmen ins Parlament einziehen. Diese Regel wird durch die Grundmandatsklausel gelockert. Sie erlaubt es einer Partei, trotz geringem Stimmanteil ins Parlament einzuziehen, wenn sie in ausreichend vielen Wahlkreisen Direktmandate gewinnt. Dieses starre System könnte durch die Einführung von Vertrauens- und Misstrauensstimmen flexibler und gerechter gestaltet werden.
Es ist zu erwarten, dass die Mehrheit der Wählerschaft dominante politische Kräfte mit Vertrauensstimmen unterstützt, während extreme Parteien durch Misstrauensstimmen geschwächt werden. Kleinere Gruppen extremerer Parteien könnten dem zwar entgegenwirken, wären jedoch zahlenmäßig unterlegen. Dies würde im Endergebnis zu einer moderaten Schwächung führen. Es ist auch zu beachten, dass aufgrund der Sitzverteilung in Landtagen bereits eine effektive Hürde von 0,5 bis 2 Prozent durch die Rundung auf ganze Sitze besteht. Diese Hürde ist im Bundestag aufgrund der höheren Anzahl an Sitzen entsprechend niedriger. Ob ein solches System die gewünschten Eigenschaften einer Wahl besser umsetzen könnte als unser aktuelles System mit Fünfprozenthürde, müsste jedoch detailliert analysiert werden.
Ein reformiertes Wahlsystem könnte zum Beispiel zwölf Vertrauensstimmen und zwei Misstrauensstimmen vorsehen. Erst wenn alle positiv zählenden Vertrauensstimmen vergeben sind, könnten die negativ zählenden Misstrauensstimmen wirken. So könnten differenziertere Wahlentscheidungen getroffen und die politische Vielfalt besser abgebildet werden. Ein entsprechender Wahlzettel, der auch die weiter unten aufgeführten Ansätze berücksichtigt, ist in der folgenden Abbildung beispielhaft dargestellt.
Direkte Vertretung mit breiter Unterstützung
Neben der Einführung von Misstrauensstimmen könnte auch eine mehrstufige Wahl fundiertere Entscheidungen ermöglichen. Eine Möglichkeit wäre die Einführung einer Stichwahl, wenn bei der Erststimme keine Kandidatin oder kein Kandidat die absolute Mehrheit erreicht. Dieses Verfahren wird bereits bei Bürgermeister- und Landratswahlen in Deutschland sowie in Ländern wie Frankreich und Argentinien angewandt. Auch für Landtags- und Bundestagswahlen wäre dies sinnvoll, um die Legitimität von Direktkandidierenden zu stärken.
Eine Stichwahl bietet die Möglichkeit, in einem zweiten Wahlgang eine klarere Entscheidung zu treffen, was insbesondere bei engen Rennen sinnvoll ist. Dass es in Deutschland für Direktkandidierende bei Landtags- und Bundestagswahlen keine Stichwahl gibt, könnte darauf zurückzuführen sein, dass der Aufwand für Wählende und Wahlleitungen minimiert werden soll. Ein effizienterer Ansatz, dies zu lösen, wäre eine integrierte Stichwahl, wie sie in Australien praktiziert wird. Hier geben die Wählenden eine Rangfolge ihrer Präferenzen an, was einen zweiten Wahlgang überflüssig macht. Eine vereinfachte Form dieses Systems ist die Ersatzstimme, bei der die Wählenden nur eine Zweitpräferenz angeben, die allein zählt, wenn die Erstpräferenz nicht wirkt.
Die Wahloption „Gegen alle“
Ein weiteres interessantes Element wäre die Einführung einer Wahloption, bei der Wählende explizit keine der antretenden Parteien unterstützen. Diese Möglichkeit gab es zuletzt in Russland bei der Präsidentschaftswahl 2004 mit der Option „Gegen alle“. Sollte ein bestimmter Prozentsatz bei dieser Option erreicht werden, könnten Neuwahlen erforderlich sein oder Sitze im Parlament blieben unbesetzt. Dies würde die Parteien dazu zwingen, sich intensiver um die Stimmen der Unzufriedenen zu bemühen.
Mehr Bürgerbeteiligung zwischen den Wahlen
Neben der Reform des Wahlsystems bleiben weitere Herausforderungen bestehen, die durch diese Änderungen nicht vollständig gelöst werden können. Bürger:innen sollten auch zwischen den Wahlen stärker in politische Prozesse eingebunden werden. Unsere zunehmend vernetzte Welt macht eine verstärkte politische Teilhabe umso wichtiger. Ansätze wie transparenterer Umgang mit laufenden politischen Prozessen, verstärkte Bürgerbeteiligung oder Volksentscheide und Bürgerräte könnten wertvolle Ergänzungen sein, besonders bei grundlegenden Änderungen des Wahlsystems. Eine direktere Einbindung der Bürger:innen könnte auch mögliche Interessenkonflikte, basierend auf den Machtinteressen der Parteien, auflösen.
Eine weitere, bereits diskutierte Idee ist es, parlamentarische Abstimmungen mit direkter Bürgerbeteiligung zu verknüpfen. Das Abstimmungsgewicht des Parlaments könnte um den Umfang der Beteiligung an der direktdemokratischen Abstimmung reduziert werden. Das bedeutet, wenn ein gewisser Teil der Wahlberechtigten direktdemokratisch abstimmt, hätte das Parlament nur noch das Gewicht des verbleibenden Anteils. Dies würde die Wahl darauf begrenzen, einer bestimmten politischen Richtung zunächst eine Parlamentsmehrheit zu verschaffen und gleichzeitig Themen aufzufangen, die der gesellschaftlichen Willensbildung entrückt sind. Dadurch würden die Parteien stärker zur öffentlichen Willensbildung bewegt, anstatt nur interne Mehrheiten im Parlament zu organisieren. Damit übertragen die Nichtwähler implizit ihre Wahlentscheidung dem Parlament, dem sie dadurch ihr Vertrauen übertragen.
Fazit
Demokratie lebt von einem differenzierten und klar artikulierten Wählerwillen. Ein Wahlsystem muss diesem Umstand gerecht werden und gleichzeitig nicht unnötig kompliziert sein. Die Einführung von Vertrauens- und Misstrauensstimmen sowie mehrstufigen Wahlsystemen könnte zu fundierteren Entscheidungen und einer gerechteren Verteilung politischer Verantwortung führen. In einer sich wandelnden Welt ist es unerlässlich, dass auch das Wahlsystem mit neuen Herausforderungen Schritt hält. Politische Parteien sollten im Sinne der Demokratie handeln und ihre Machtinteressen hinter die Bedürfnisse der Bürger:innen stellen. Es liegt in der Verantwortung der Wählenden, ihre Entscheidungen bewusst zu treffen und aktiv am demokratischen Prozess teilzunehmen. Nur durch eine kontinuierliche Weiterentwicklung kann die Demokratie auch in Zukunft bestehen und den Bedürfnissen der modernen Gesellschaft gerecht werden.
Johannes Baumgart
Die von mir aufgegriffene Idee im Abschnitt „Mehr Bürgerbeteiligung zwischen den Wahlen“, das Abstimmungsgewicht des Parlaments im Verhältnis zur Beteiligung an direktdemokratischen Abstimmungen zu reduzieren, ist bisher eher allgemein formuliert. Zur Veranschaulichung hier ein Beispiel:
Nehmen wir an, bei einer Volksabstimmung beteiligen sich 60 % der Wahlberechtigten, von denen 55 % mit „Ja“ stimmen. Gleichzeitig gibt das Parlament seine Stimmen unter den gleichen Bedingungen und zur gleichen Zeit ab, beispielsweise durch einen gesonderten Wahlkreis für das Parlament, um gegenseitige Beeinflussungen auszuschließen. Die Stimmen des Parlaments repräsentieren dabei die verbleibenden 40 % der Nichtwähler:innen. Stimmt das Parlament zu 45 % mit „Ja“, ergibt sich im Endergebnis eine Mehrheit von 51 % „Ja“-Stimmen. Würde das Parlament hingegen nur zu 40 % mit „Ja“ stimmen, ergäbe sich im Endergebnis eine Minderheit von 49 % „Ja“-Stimmen, was zu einem „Nein“ führen würde.