Miteinander fliegen Kraniche über einem Teich in der Lausitz.
Das braune Laub scheint golden in der Abendsonne.
Mich beschäftigt, wie Menschen einander begegnen. Das Miteinander ist die Form, wie wir unser Leben gemeinsam gestalten, und ist im politischen Handeln – was weit mehr ist als das, was Politiker tun – von Bedeutung. Sind wir auf Hilfe angewiesen, braucht es ein Füreinander und entsprechende Fürsorge. Das Miteinander wird derzeit viel bemüht. So verwendet Michael Kretschmer, Ministerpräsident von Sachsen, es häufig für seine Politik. Dass das Gegeneinander keine gute Form für das politische Handeln ist, mag nachvollziehbar sein, doch wie unterscheiden sich Miteinander und Füreinander?
Im Bereich des politischen Handelns grenzt Hannah Arendt das Miteinander vom Füreinander überraschenderweise sehr klar ab. Das Miteinander zeichnet sich nach ihr dadurch aus, dass die oder der Einzelne sich in seiner Meinung festlegt, wohingegen im Füreinander der Einsatz für die Sache keiner eigenen klaren Festlegung bedarf. Letztendlich führt das Füreinander in seiner reinen Form zu einer Selbstaufgabe, denn es werden alle zukünftigen Optionen offengehalten. Durch dieses Offenhalten wird auch kein Standpunkt eingenommen, von welchem aus neue Entscheidungen möglich wären.
Wenn ich Position beziehe, hat das Konsequenzen. Hannah Arendt führt in ihrem Buch „Vita activa“ zum Miteinander im Kontext des politischen Handelns weiter aus, dass ohne das Beziehen einer Position das Handeln zu einer austauschbaren Leistung wird. Sie schreibt, dass ein fehlendes Miteinander beispielsweise im Kriegsfall vorkommt, „wenn Handeln nur besagt, bestimmte Gewaltmittel bereitzustellen und zur Anwendung zu bringen, um gewisse, vorgefaßte Ziele für sich selbst und gegen den Feind zu erreichen“. In diesem feindlichen Gegeneinander gibt es Menschen, die durch ihr Füreinander den Krieg unterstützen, indem sie ihre Leistung als Ware zur Verfügung stellen. In diesem Sinne bedingen Für- und Gegeneinander sich gegenseitig, wohingegen das Miteinander einen wahrhaftigen Menschen erfordert, der ehrlich zu sich steht und von seiner Position aus mit seinen Mitmenschen im Austausch ist.
Für die eigene Position braucht es einen eigenen Raum
Das für das Miteinander notwendige Festlegen auf eine Position ist ein Prozess, bei welchem viele kleine einzelne Entscheidungen und Abwägungen getroffen werden. Es ist somit selbstverständlich, dass viele verschiedene Standpunkte existieren und diese keineswegs dauerhaft fest verortet sind. Kein Mensch bleibt sein Leben lang an der gleichen Position. Diese Herangehensweise eröffnet die Möglichkeit, dass jeder Mensch seine eigene Position beziehen und mit der Zeit anpassen kann. Doch aktuell findet in unserer Welt der umgekehrte Prozess statt. Insbesondere in der digitalen Welt nimmt die Anonymität zu. Trotz des zunehmenden Schutzes der Privatsphäre und der eigenen Rechte stehen weniger Menschen mit ihrem Vor- und Zunamen in der digitalen Welt zu ihrer Meinung. Im Sinne von meinem Verständnis eines guten Miteinanders verwende ich auf meiner Website meinen Namen mit einem Foto, auf dem ich erkennbar bin.
Ein Festlegen auf meine eigene Meinung schützt mich vor Einflussnahme durch fremde Interessen, insbesondere in der digitalen Welt. Um von meinem Standpunkt aus frei agieren zu können, hilft mir eine klare Trennung von digitaler und analoger Welt. In der analogen Welt nehmen wir uns Menschen wechselseitig mit unseren Sinnen wahr, wohingegen die digitale Welt mit technischen Mitteln, insbesondere den bildhaften, die ursprüngliche analoge Realität verlustbehaftet in eine digitale abbildet und sie an entfernter Stelle und zu anderer Zeit wieder darbietet. So vergrößert sich der Abstand zwischen den Menschen nicht nur durch die geografische Entfernung, sondern auch durch die fehlende unmittelbare Antwort, wie es der Soziologe Richard Sennett in einem Interview erläutert. Auf ein dargebotenes Video können weder alle, die es sehen, umgehend mit einem Video antworten, noch kann der ursprüngliche Sender alle Antworten entsprechend ansehen und den Dialog weiterführen.
Ich kann frei entscheiden, wann ich mit der digitalen Welt in Kontakt treten will. Eine Erleichterung ist für mich mein freiwilliger Verzicht auf ein Smartphone. Bin ich im Internet unterwegs, tue ich dies – wie beim Einkauf – mit einem mentalen Einkaufszettel, um die gewünschten Dinge zu erledigen, benötigte Informationen zu erhalten und zu kommunizieren.
Der Austausch von Standpunkten erfordert Respekt
Mit Respekt vor der Bereitschaft, sich statt in der digitalen in der analogen Welt auszutauschen, sah ich mir den Mitschnitt der Veranstaltung „Bautzen, wir müssen reden“ vom 8. Februar 2019 an. Dabei versammelten sich zahlreiche Bürger mit unterschiedlichsten Standpunkten, um ihre Meinungen auszutauschen, und so durchmischten sich nicht nur am Gesprächstisch die verschiedensten Positionen. Zum einen wurde ein Wunsch nach mehr Klarheit und Bewahrung der alten guten Werte, zum anderen ein Wunsch nach mehr Freiheit, insbesondere im Bereich der Meinungsäußerung, artikuliert. Beides hat seine Berechtigung, aber durch die Koexistenz der beiden Bereiche sind die Räume, in denen sie stehen, begrenzt.
Der konservative Ansatz, das Gute zu bewahren, ist schon allein in der Natur des Menschen begründet. Wir sind durch unsere Umwelt und Mitmenschen geprägt und von ihr wie auch ihnen abhängig. Die Evolution macht keine Sprünge, sondern sorgt für Veränderungen, die von Generation zu Generation in Schritten erfolgen. Ebenso können wir nicht ständig damit beschäftigt sein, die sich verändernde Umgebung zu prüfen. Wir müssen zu einem gewissen Grade darauf vertrauen, dass sich Dinge wiederholen, sonst können wir uns nicht zurückziehen, etwas ausarbeiten und es unseren Mitmenschen zur Verfügung stellen. Dies darf jedoch nicht dergestalt missverstanden werden, dass wir in Bereichen, die wir gestalten können, am Alten festhalten müssen; geschweige denn ergibt sich daraus zwangsläufig ein Anspruch für die Zukunft, nur weil die oder der Einzelne in der Vergangenheit etwas geleistet hat. Zu jeder Zeit ist es notwendig, den Blick auf unsere heranreifenden wie alternden Mitmenschen und unsere dynamische Umwelt zu haben, denn auf diese sind wir angewiesen.
Auch die Vielfalt von Meinungen liegt in der Natur des Menschen begründet. Wir haben begrenzt Zeit, etwas wahrzunehmen, und sammeln über die Zeit viele kleine Erinnerungsstücke, wodurch jede individuelle Perspektive zwangsläufig eine andere ist. Wie oben im Kontext des Miteinanders ausgeführt, ist es wichtig, diese zu artikulieren und zum eigenen Standpunkt zu stehen. So hat es mich gefreut, dass bei der Veranstaltung in Bautzen Bürgerinnen und Bürger aufgestanden sind und ihre Meinung vor ihren Mitmenschen artikuliert haben. Stehe ich zu meiner Meinung, kann ich diese Äußerungen nutzen, um die eigene Position zu prüfen und gegebenenfalls klarer zu fassen, aber auch anzupassen. Meine Meinungsäußerung darf jedoch keinesfalls andere beleidigen oder verleumden. Stehe ich ohne eigene Position, mag eine andere Meinung zu mir passen und ich nehme diese unreflektiert an oder lehne sie pauschal ab. Die Voraussetzung für die Meinungsbildung ist das Einander-Zuhören. Nur abzuwarten, bis eine Meinung fertig artikuliert ist und dann durch Klatschen oder Buh-Rufen die Meinung zu bewerten, ist kein Zuhören und Prüfen, kein Dialog.
Es ist eine gemeinsame Aufgabe, unser Miteinander gut und gesund zu gestalten
Die Basis für unseren heutigen Staat ist Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Hierzu sagte der Bundesverfassungsrichter Peter Müller in einem Interview: „Der Mensch ist nicht für den Staat, sondern der Staat für den Menschen da. Alles muss vom einzelnen Menschen und seiner Würde her gedacht werden.” In diesem Sinne verstehe ich es als Aufforderung, in einem guten und konstruktiven Miteinander aktiv zu sein. Wie bei der Veranstaltung in Bautzen entsprechend erwähnt wurde, gilt das gelebte Miteinander ebenso für die staatlichen Institutionen. Diese müssen in Verantwortung von Recht und Gesetz handeln, sind untereinander aufeinander angewiesen – und so steht alles auf dem Fundament der kleinsten Einheit, der Kommune.
Dass wir Bedarf haben, unser Miteinander besser zu gestalten, steht aus meiner Sicht außer Frage. Die Menschheit und später der Planet Erde werden irgendwann nicht mehr existieren. Wie wollen wir unsere Zeit als Menschen miteinander gestalten?
Andere dafür verantwortlich zu machen, dass sich die Umgebung geändert hat oder im Begriff ist, sich zu ändern, ist nur eine wenig nützliche Schuldzuweisung, die wie auch die Selbstkritik zu keiner Lösung führt. Die Wahrnehmung der Umgebung und die kritische Reflektion über die eigene Haltung sind wichtige Schritte, aber entscheidend ist es, die eigene Meinung zu gebrauchen, um unser Miteinander gut und gesund zu gestalten.