Es stehen Landtagswahlen in Sachsen an. Als Wähler hat man die herausfordernde Aufgabe, die Parteien und Kandidaten zu verstehen und selbstbewusst zu wählen. Hier meine Gedanken zur Reflexion über meinen Standpunkt, in einer Zeit mit abnehmender Diskussionskultur.
Was uns Menschen ausmacht, ist unsere ausgeprägte Fähigkeit zu denken, wie Gabriel in seinem Buch Der Sinn des Denkens darlegt. Wesentlich ist, dass wir leben wollen, als Einzelperson wie auch als Menschheit. Das Bewusstsein für diese Endlichkeit ist entscheidend für unser Handeln und unterscheidet uns klar von technischen Geräten und Algorithmen, die keinen Überlebenswillen besitzen. – So weit die Beobachtungen von Gabriel. In diesem Sinne betrachte ich es als wichtige Aufgabe, das Nachdenken für die Wahlentscheidung zu gebrauchen. Zahlreiche Stunden stelle ich mich jede Woche für meine Arbeit zur Verfügung; ein paar wenige wären für unsere demokratische Gesellschaft durchaus angemessen.
Um langfristig zu einer Entscheidung stehen zu können, ist es als Erstes wichtig, Informationen zu sammeln. Diese finde ich in erster Linie in den Wahlprogrammen. Diese Texte werden zu Unrecht wenig von Wählern gelesen, denn sie sind aufschlussreich und authentisch. Überraschenderweise ist selbst mancher Kandidat einer Partei nicht umfassend mit dem Inhalt des eigenen Programmes vertraut. Als Wähler ist es jedoch nicht realistisch, die langen Texte jeder Partei in Ruhe vollständig zu lesen. Doch hilft mir bereits die Lektüre von Auszügen der Programme. Mich persönlich interessiert zum Beispiel der Umgang mit Vermögen. Ein umfassendes Bild entsteht mit dieser Stichprobe allerdings nicht.
Abhilfe schafft zu einem Teil der Wahl-O-Mat. Dabei muss man sich zu ein paar Thesen positionieren, die mit den Wahlprogrammen der jeweiligen Parteien verglichen und ausgewertet werden. Das geht relativ zügig und führt in manchen Fällen zu einem unerwarteten Ergebnis, was wiederum zum Nachdenken anregt. Doch das Schema mit ausgewählten Themen hat auch seine Tücken. Ist mir eines fremd, treffe ich eine (vor-)schnelle Bauchentscheidung. In etwa der Hälfte der Fälle würde ich mich nach einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Positionen der einzelnen Parteien gerne umentscheiden. Bei dem anderen Teil stimmt diese schnelle Entscheidung mit der überein, die ich auch nach längerem Nachdenken getroffen hätte. Dies zeigt, wie wichtig die Reflexion ist.
Quantitative Abfragen ermöglichen den Vergleich auf Kosten wesentlicher Werte
Eine quantitative Abfrage hat ein grundlegendes Problem: Der eigene Standpunkt lässt sich nicht durch ein paar Zahlen vollständig abbilden; denn nehme ich das Ergebnis einer solchen Ermittlung – beim Wahl-O-Mat die Prozente an Übereinstimmung mit den Antworten der Parteien –, kann ich aus dieser einen Zahl meine Position nicht eindeutig rekonstruieren. Darüber hinaus fehlt durch das schnelle Fragen die Zeit zum Denken und Abwägen, ebenso mangelt es an der Möglichkeit, selbst Themen vorzugeben.
In dieser Hinsicht ist es ernüchternd zu sehen, wie umfassend das Instrument der Abfrage auch an anderer Stelle genutzt wird. So wird das Bauchgefühl der Bevölkerung ebenso durch die Bundesregierung ermittelt. Das Bundespresseamt führt Umfragen durch, um Themen zu identifizieren, bei welchen die Bürgerinnen und Bürger zum Beispiel Probleme und Handlungsbedarf sehen. Auch dienen diese Erhebungen der Bundesregierung im Rahmen ihrer Politikvermittlung als Kontrollinstrument. Inzwischen werden die Daten zwar veröffentlicht, doch ein reflektierter Dialog, inklusive eines aufmerksamen Zuhörens und miteinander Sprechens, entsteht dadurch zwischen Regierung und Bürgern in dieser Form nur sehr rudimentär.
Der Gebrauch von Zahlen suggeriert eine Austauschbarkeit von unterschiedlichen Dingen. Doch kann nicht alles mit einem Preis beziffert werden, was insbesondere für unsere Umwelt gilt. Zwar lassen sich beispielsweise Land- und Finanzwirtschaft in Form ihres Beitrages zum Bruttoinlandsprodukts vergleichen, doch weder lässt sich allein aus der Kennzahl der entsprechende Wirtschaftssektor rekonstruieren noch können wir in unserer heutigen Zeit auf einen dieser Bereiche verzichten.
Um von der Quantität auf die Qualität zu wechseln, braucht es einen Dialog, welcher sich mehr an unserer Sprache orientiert. In dieser Hinsicht begrüße ich es, dass Politikerinnen und Politiker direkt ansprechbar oder über einen der vielen Kommunikationskanäle erreichbar sind und, in aller Regel, den Austausch konstruktiv führen. Das Zuhören ist jedoch nicht deren alleinige Aufgabe. Der Blick auf die Vielzahl von Bürgern, die durch einen einzelnen Abgeordneten vertreten werden, macht sichtbar, dass ich politische Angelegenheiten auch mit anderen Menschen besprechen sollte.
Meinen eigenen Standpunkt reflektieren im Kontext anderer Positionen
In Sachsen stehen am 1. September 2019 Landtagswahlen an. In Vorbereitung auf die anstehende Wahl gibt es eine große Palette an Informationen. Die Kandidatinnen und Kandidaten sowie die Parteien versuchen potenzielle Wähler zu erreichen, aber auch die Medien berichten umfassend darüber. Doch wie kann ich in dieser Umgebung einen kühlen Kopf bewahren und meine eigene Meinung, meinen eigenen Standpunkt klar verorten?
Als Vorbereitung auf die anstehende Wahl schätze ich den MDR-Kandidatencheck. In einem vier Minuten langen Interview beantworten Kandidatinnen und Kandidaten darin dieselben Fragen in derselben Reihenfolge. Dadurch bekomme ich einen Eindruck, wer sich anbietet, mich in der Landespolitik zu vertreten. Insbesondere für die Erststimme ist dies eine gute Hilfe, ein klares Bild zu erhalten. Darüber hinaus bieten die Antworten eine solide Grundlage für Gespräche mit Freunden und Bekannten. Der wesentliche Wert zeigt sich mir aber in einer weiteren Aufgabe: sich Zeit zu nehmen und den Fragenkatalog selbst zu beantworten. Durch die inhaltliche Auseinandersetzung und das Niederschreiben festige ich meinen eigenen Standpunkt, bin offener für andere Meinungen und bereit für konstruktive politische Gespräche, wie ich es für ein friedliches Miteinander als wesentlich erachte und in einem weiteren Text bereits ausführte.
Das Reflektieren eröffnet die Möglichkeit, über Grenzen hinaus zu denken, auch über die Landesgrenzen hinweg. Bewegen wir uns auf geradem Wege, kommt irgendwann die Landesgrenze; hinter dieser geht die Welt weiter. Dahinter befindet sich die Grenze der Europäischen Union, danach folgen weitere Land- und Wasserflächen und schließlich geht die Reise wieder zurück zur Europäischen Union, zur Landesgrenze, zum eigenen Standpunkt. Die Erde ist rund. Wir sind auf unsere Mitmenschen und auf die Umwelt, auch jenseits der Landesgrenze, angewiesen. Dieses wesentliche Bewusstsein ist entscheidend für unser Dasein. Es genügt nicht nur zu sehen, nur zu hören und zu sprechen, es braucht auch das Verstehen.
Vor einer Entscheidung ist es gut innezuhalten, doch ist es wichtig, den Zustand des Zauderns auch zu verlassen. Wir müssen unseren eigenen Standpunkt klar verorten und dürfen nicht aus Angst und im vorauseilenden Gehorsam blind anderen vertrauen. Entscheidend ist es, selbst zu verstehen und zu wählen. Für das Nichtwählen ist es zu spät.